Der Internationale Strafgerichtshof
La Cour pénale internationale
The International Crime Court

Nadine Jessen, Zur Inszenierung

Die Frage der Gerichtsbarkeit ist nicht nur eine juristische; und so ist an den Ruf nach Gerechtigkeit immer auch eine philosophische, ideologische und nicht zuletzt auch kulturell geprägte Debatte geknüpft.

Im Internationalen Strafgerichtshof trifft Erwartung auf juristische Realität, globales Recht auf lokale Zeugenaussagen, Afrika auf Europa und das Individuum auf die Weltgemeinschaft.

In dem politischen Tanztheater von Gintersdorfer/Klaßen trifft Paragraf auf Choreograf. Gewohnt kühn sezieren die Performer Machtstrukturen und ertanzen die Vorstellung von Gerichtbarkeit. Ausgehend von der aktuellen Verhandlung um den als Kriegsverbrecher angeklagten ehemaligen Präsidenten der Elfenbeinküste Laurent Gbagbo, aber auch unter Einbeziehung der anderen Prozesse, konzentrieren sich Gintersdorfer / Klaßen auf die Spanne zwischen Ideal und erreichbarer Praxis im internationalen Kontext.

Die rhythmische Struktur des Stückes entsteht durch die Gliederung in Sprech- und Tanzsektionen, die sich abwechseln. In geometrischen Choreografien demonstriert das Ensemble kühl und kühn die Komplexität der supranationalen Rechtsprechung. Vertikale und horizontale Körperskulpturen verdeutlichen beispielsweise das Bestreben des Internationalen Strafgerichtshofes, eine vertikale Rechtsordnung durchzusetzen. Jedoch ist die Lage beispielsweise im Kongo so undurchsichtig, dass eine horizontale (also breiter aufgestellte) Anklagepolitik von Opferverbänden eingefordert wird.
Gintersdorfer/Klaßen souhaitent suivre de près le rêve d’une démocratie universelle en se fondant sur sa réalisation concrète à la CPI. En s’appuyant sur le cas de l’ancien président de Côte d’Ivoire, Laurent Gbagbo, accusé de crimes de guerre, tout en tenant compte d’autres procès, Gintersdorfer/Klaßen se focalisent sur l’écart entre l’idéal et la pratique accessible dans un contexte international. 8 acteurs, chanteurs, danseurs, dont les stars de Coupé-Décalé Skelly et Gadoukou la Star se partagent la scène. La pièce se déroule en français et en allemand.
Gintersdorfer/Klaßen try to follow the dream of worldwide democracy based on the concrete implementation at the ICC. Starting from the as a war crimial accused former president of the Ivory Coast, Laurent Gbagbo, but also taking into account the other trials, Gintersdorfer/Klaßen concentrate on the span between ideal and achievable practice in the international context.
Der Internationale Strafgerichthof definiert jeden als Opfer, der persönlich geschädigt wurde („experienced personal harm“) - wobei die Verletzung individuell oder im Kollektiv mit anderen, direkt oder indirekt erfolgen kann. Auch dieser Opferbegriff wird vom Ensemble akribisch hinterfragt.

Dabei werden widersprüchliche, missverständliche oder gar unvereinbare Positionen der Darsteller nicht wegharmonisiert, sondern in ihrer Sperrigkeit aufgefächert.

Das heterogene Ensemble besteht aus ivorischen, kongolesischen und deutschen Darstellern, die aus sehr unterschiedlichen Perspektiven die politischen und persönlichen Dimensionen reflektieren.
Gintersdorfer/Klaßen haben ihre Methodik, in der die Lebensstrategien und Ausdrucksformen der Darsteller im Zentrum stehen und mit Strategien und Ästhetiken konfrontiert werden, im Laufe der Jahre immer mehr verfeinert. Die Darsteller positionieren sich in den jeweils fremden Kontexten, Texte und Formen werden konkret für diese Situationen und diese Personen erschaffen, wie beispielsweise das Wechselspiel aus Bewegung und Sprache.

Alles ist, was es ist. Es geht nicht um Erfundenes oder Symbolisches - weder auf der Text- Spiel oder Materialebene. So entsteht ein möglichst direkter Transport von Leben ins Theater und von Theater / Performance ins Leben.

Mit dem philosophischen Begriff des „Spekulativen Realismus“ lässt sich die praktizierte Kunstform gut umschreiben. Der „spekulative Realismus“ untersucht das Verhältnis von Objekten und Prozessen zueinander und versucht, zu den Dingen selbst durchzudringen. Das philosophische Schlagwort ist der Korrelationismus, der sich bewusst von psychologisierenden und hermeneutischen Diskursen abhebt und das alltägliche Zeug, wie es Heidegger genannt hätte, neu verhandelt und Beziehungsmäßigkeiten nachspürt (Angela Stief).

Wort- und Bewegungsanalysen dienen nicht nur der Wahrheitsfindung, sondern sind Prothesen zur Durchdringung der philosophischen Frage nach globaler Demokratieideologie und individuellem Rechtsempfinden.
Wer sich schnell aufregt, isst keinen heißen Reis
Coeur gros ne mange pas du riz chaud
Who quickly becomes upset, does not eat hot rice
Nadine Jessen, Hintergründe

Thomas Lubanga Dyilo ist der Gründer und ehemalige Führer der Union des Patriotes Congolais (UPC), einer im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo aktiven bewaffneten Miliz. Im März 2005 wurde er wegen des Verdachts verschiedener Verletzungen der Menschenrechte sowie der Ermordung von neun Soldaten der Friedenstruppen der Vereinten Nationen durch nationale Behörden verhaftet. Rund ein Jahr später erfolgte aufgrund eines Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) seine Überstellung nach Den Haag, wo im August 2006 Anklage gegen ihn erhoben wurde. Im Januar 2009 begann der Prozess wegen der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindersoldaten. Am 14.3.2012 erließ die Verfahrenskammer I des Internationalen Strafgerichtshofs das lange erwartete erste Urteil des Gerichtshofs, das 624 Seiten umfasst; am 10.7. wurde Lubanga zu 14 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

Laurent Gbagbo ist ein ivorischer Politiker der Ivorischen Volksfront (FPI). Vom 2. Dezember 2000 bis 3. Dezember 2005 war er Präsident der Elfenbeinküste. Ab 2005 übte er aufgrund der mehrfachen Verschiebung der Präsidentenwahl das Amt bis zum 4. Dezember 2010 weiterhin kommissarisch aus. Trotz seiner Abwahl hielt Gbagbo an der Macht in der Elfenbeinküste fest, bis er 2011 nach monatelangem Widerstand auf Geheiß von Alassane Ouattara, welcher im Jahr zuvor als Sieger aus der Stichwahl um die Präsidentschaft hervorgegangen war, in seiner Residenz nahe Abidjan festgenommen wurde. Seit November 2011 befindet er sich im Gewahrsam des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag. Am 30. November 2011 lieferte ihn die Elfenbeinküste nach Den Haag aus, wo er sich vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verantworten soll. Ihm wird der Tod von mindestens 325 Menschen zur Last gelegt. Konkret wirft ihm der Staatsanwalt die Verantwortung für Mord, Vergewaltigung, unmenschliche Akte und Verfolgung in der Elfenbeinküste zwischen dem 16. Dezember 2010 und dem 11. April 2011 als „Indirekter Mittäter“ vor.

Der Internationale Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag ist der Versuch, eine Art Weltgericht zu installieren. Vor dem Hintergrund der Nürnberger Prozesse wurde nach einem justizförmigen Umgang mit Menschheitsverbrechen, deren Unrechtsgehalt unmöglich noch in konventionellen Strafen ausgedrückt werden kann, gesucht. Die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofes umfasst begangene Delikte des Völkerstrafrechts, also Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression. Alle der bisher 15 Angeklagten stammen aus verschiedenen afrikanischen Staaten.